Es war ein heißer Tag im Juni diesen Jahres. Wieder einmal stand die Abschlussveranstaltung eines Leonhard Kurses an und ich durfte wie immer eine kleine Rede halten. Mein 12.Kurs, den ich ehrenamtlich als Referentin, Coach und Mentorenbetreuerin begleite, diese letzte Veranstaltung ist immer der Höhepunkt von 20 intensiven Wochen.

Emotionen, Glück und Abschied

Ich liebe diese Veranstaltungen besonders, weil sie der Brennpunkt der langen Wochen sind, der Höhepunkt. Die Jungs haben ihre Prüfungen und Businessplan-Pitches hinter sich und bestanden – viele von ihnen haben das erste Mal in ihrem Leben etwas von A bis Z durchgezogen und sind sehr erschöpft und zugleich völlig aufgekratzt vor Glück und Stolz. Die Veranstaltung mit vielen Gästen (ich nenne sie eigentlich viel lieber „Freunde vom Leonhard Projekt“ – immer sind neue Gesichter dabei, viele aber kennen und schätzen sich seit Jahren, eine Art Familientreffen) ist eine große Feier, ein wenig wie Abifeiern. Die Teilnehmer, meine „Jungs“ kriegen viel Applaus, bedacht gewählte individuelle Worte und Wünsche mit auf den Weg, sie bejohlen und beklatschen und umarmen sich und die Gäste. Es ist immer hochemotional … zumal außer dem ausgelassenen Glück noch etwas anderes in der Luft liegt, der Abschied nämlich. Einen Tag später verabschiedet sich der Kurs voneinander und vom Leonhard Team, dann werden einige direkt in die Freiheit entlassen, die Mehrzahl jedoch kehrt noch für Wochen oder Monate zurück in ihre ursprüngliche JVA.

20 Wochen Wertschätzung, Ermutigung und Teamgeist

Und dann endet eine außergewöhnliche Zeit für die Jungs. 20 Wochen, an denen sie in einem Kokon lebten – einem Kokon der Wertschätzung, wo alle, mit denen sie zu tun hatten, felsenfest an sie geglaubt haben, zu ihrer beruflichen und persönlichen Unterstützung da waren, sie ermutigten, sie unterrichteten, sich für sie als Mensch und nicht als Verbrecher interessierten. Eine Zeit, in der sie auch als Team zusammenwuchsen, sich miteinander intensiv auseinandersetzen mussten (für viele die größte Herausforderung des Kurses, mehr als der Business-Plan. Ein Teilnehmer sagte mal zu mir:

Frau Stackelberg, wenn mir draußen jemand nicht passt, hau ich ab oder schlag ihn auf die Nase. Beides kann ich hier knicken. Wir kommen uns nicht aus und werden dann von den Leonhard Leuten auch noch angehalten, uns vernünftig mit ihnen über unsere Gefühle zu unterhalten. Das ist echt schwer und neu für mich – macht aber irgendwie echt Sinn!

Teilweise sind sie wirklich „best buddys“ geworden, Brüder im Herzen. Und danach wartet eine Zukunft auf sie, vor der sie in der Regel erstmal viel Angst haben.

Zurück zu der Abschlussveranstaltung im Juni – hier ist meine kleine Abschiedsrede.

Lass Deine Traurigkeit zu!

Es war am 19.April nach der Mittagspause, ich war wieder mal für einen Tag mit meinen Themen im Kurs. Einige der Jungs erzählten gerade, dass sich bei ihnen „immer was rühren muss“, sie bräuchten ständig Action, weils sonst langweilig werde. Zu diesem Zeitpunkt war die Aufmerksamkeit noch gemischt, wie ich es oft erlebte: Einige waren intensiv bei der Sache, einige dösten vor sich hin, andere quatschten miteinander.

Das sollte sich schnell ändern, als nämlich einer der ganz besonders Coolen plötzlich sagte:

Ja, es muss sich immer was rühren, immer Action sein, weil ich sonst nämlich auf dumme Gedanken komme.

Schlagartig wurde es ein wenig ruhiger und konzentrierter im Kurs.

„Auf was für dumme Gedanken kommen Sie denn dann?“ fragte ich. Es wurde noch ein bisschen ruhiger.

Sein Nachbar antwortete:

„Dann muss ich mich mit mir beschäftigen. Und dann kommt die Traurigkeit. Und das geht gar nicht!“

Jetzt konnte man eine Stecknadel fallen hören. Alle hörten zu, alle waren bei der Sache, keiner döste oder quatschte mehr.

„Was ist denn dann, wenn die Traurigkeit kommt?“ fragte ich.

„Die Traurigkeit bringt mich um.“ Kam als Antwort.

Wie wäre es mit einem neuen Step-to-the-line Satz (Anmerkung: Das ist eine Übung, die wir in jeder Gäste Veranstaltung mit den Jungs und den Gästen machen, beeindruckend jedes Mal) : Ich kenne das Gefühl, wenn mich Kummer, Traurigkeit, Schmerz, Wut oder Angst schier umbringen. Wer von Ihnen tritt im Geiste vor an die Linie und antwortet mit JA?

Ich kenne das Gefühl, nur allzu gut. Als sich vor ein paar Jahren meine große Liebe von mir trennte, da kam es mir so vor, als ob ich diesen Schmerz nie und nimmer aushalten könnte. Es war dieser besonders kalte Winter und ich lag so manche Nacht sehr verheult wach und überlegte mir, dass ich einfach runter zur Würm gehen könnte, ohne Wintermantel – wenn ich dann kurz in den Fluß springe und mich dann nass ans Ufer setzen würde – dann müsste es doch eigentlich ziemlich schnell vorbei sein, oder?

Es gibt noch viele andere Arten, vor diesen schlimmen Schmerzen zu fliehen:  Alkohol, Drogen, Adrenalin-Kicks oder Schlägereien – da spür ich mich nämlich, muss mich aber nicht mit Gefühlen beschäftigen.

Ja, das lenkt ab. Für den Moment. Aber es macht mich zugleich sehr unfrei. Weil ich nämlich weglaufe und mich immer und immer weiter ablenken muss. Weil ich glaube, meine Seelenschmerzen bringen mich um, wenn ich mich ihnen stelle.

Aber das tun sie nicht. Die Indianer sagen: Der Weg ist da, wo die Angst ist. Nicht außen herum – nein, mittendurch. Wenn wir uns der Angst und Traurigkeit und dem Schmerz stellen, merken wir nämlich: Wir überleben es! Wir atmen, wir stehen oder liegen auf dem Boden, er hält uns, wir atmen – also leben wir.

Ich wünsche uns allen immer wieder aufs Neue den Mut, uns diesen Ängsten, der Traurigkeit, der Verzweiflung zu stellen – auch wenn es unglaublich weh tut. Weil es uns frei macht, wir nicht mehr weglaufen müssen. Weil wir es überleben und jedes Mal ein bisschen stärker und mehr bei uns sind. Und beim nächsten Schmerz, der sicher kommen wird, nicht mehr soviel Angst haben.

Heute morgen – ganz früh, um kurz vor 6, war ich wieder einmal an der Würm, ging vorbei an duftenden Linden und Hollerbüschen, hörte den vielen Vögeln beim Morgengesang zu und wusch mein Gesicht im kühlen Wasser. Und ich sag Euch, das Leben ist wunderbar.